Im Nichts das Ganze. Der poetische Titel der Ausstellung von Magdalena Müller-Ha im Kunstverein Lemgo eröffnet viel Raum. Was soll das Ganze sein, das sich im Nichts befindet? Was ist das Nichts? Kann Nichts nichts sein? Schließlich haben wir doch Objekte, Kunstwerke vor uns – visuell, materiell, physisch im Raum. Die Farben, die auf die Bildträger, die Leinwände, aufgetragen wurden, das Papier, auf dem die Künstlerin ihre Zeichnungen angefertigt hat oder das in der Presse lag und auf das in aufeinanderfolgenden Durchläufen die Druckplatten gelegt wurden. Das Tiefdruckverfahren wird bei Magdalena Müller-Ha der medienspezifischen Logik der Vervielfältigung entzogen. Es entstehen Unikate, die sich durch den Prozess des Auflegens der Platten nie exakt wiederholen lassen würden. Daher ist es konzeptionell nur konsequent von der Künstlerin, erst gar nicht den Versuch zu unternehmen, die Drucke als Auflage zu produzieren, sondern ausschließlich Einzeldrucke anzufertigen. Schließlich geht es Müller-Ha offensichtlich um das Arbeiten, das Handeln, um den Prozess der Entstehung und der Entscheidungsfindung: Sehen im Entstehen nennt sie die Reihe der filigranen Radierungen, die um 2013 entstanden sind und einen reflexiven Wahrnehmungsprozess im Werden betont. Magdalena Müller-Ha hat großes Interesse am Prozess des künstlerischen Arbeitens und daran, bestimmte Momente festzuhalten. „In ihren Arbeiten beschäftigt sich Magdalena Müller-Ha mit Zustandsdokumentationen“, ist dem Ankündigungstext zur Ausstellung zu entnehmen. Diese Auffassung zeigt sich besonders deutlich in ihren Monotypien.

[…] Müller-Has Monotypien lassen den Prozess ihrer Entstehung nachvollziehbar werden. Wir sehen palimpsesthafte Bearbeitungen, Ein- und Überschreibungen, Überlagerungen, zarte und ebenso energetische Gesten, Spuren, Bewegungen, kraftvolle Schraffuren, Striche und Linien, opake wie auch lasierende Farbflächen, übereinander liegende, auch sich durchdringende und durchscheinende Ebenen und Zeichenhaftes. Wir sehen sich eröffnende Farbräume und Formen, malerische wie zeichnerische Ballungen und Entzerrungen. Lineares Gestalten trifft in einzelnen Bildern und übergreifend innerhalb der Reihe der Monotypien, die den Titel „Im Sichtfeld“ trägt und 2019 entstanden ist, auf flächige Bearbeitungen, feine Graphismen bestimmen den Rhythmus. Müller-Has Gemälde in der Ausstellung, die – auch wenn sich materiell und vom Entstehungsprozess her gesehen deutlich von den Monotypien unterscheiden – sind wie auch die Monotypien keine statisch gesetzten Bilder, sondern augenblickliche seismographische Spuren eines physischen Gestaltungsvorgangs und eines Zeitverlaufes: „Zustandsdokumentationen“ als bildnerische Reflexionen des Prozesshaften, die es von der Künstlerin festzuhalten und denen von uns als Publikum nachzuspüren gilt. […] Durch die Verweigerung gegenständlicher Nachahmungen erzeugt die Künstlerin in und mit ihren Werken unbestimmte Resonanzräume, die uns als Publikum viel Raum für unsere eigenen Gedanken und Empfindungen bieten. Mit ruhigem Blick gibt es viel zu entdecken in Müller-Has Werken – vielleicht sogar das Ganze im Nichts, das ja nicht nichts ist.

Benedikt Fahrschon, Kurator Kunsthalle Bielefeld

Lemgo 2022